Freitag, 28. Januar 2011

Die Tragfähigkeit der Erde
Was können Präsidenten tun?

Seit Dezember 2010 finden in einigen arabischen Ländern aufstandsähnliche Demonstrationen von Tausenden von unzufriedenen Menschen statt. In Tunesien musste der Präsident die Flucht ergreifen. In Ägypten wackelt der Thron des Präsidenten Mubarak. Auch in Algerien und Jordanien hat es große Protestdemos gegeben. Nur in Jordanien verlaufen sie friedlich. Was geschieht da eigentlich?
Die Ursachen der Protestaktionen und die dementsprechenden Forderungen sind zweierlei. In allen arabischen Ländern herrschen Präsidenten bzw. Monarchen despotisch. Die Präsidenten herrschen de facto auf Lebenszeit. Wahlen, wenn es sie überhaupt gibt, werden manipuliert. Unterdrückung der Oppositionsparteien und sonstigen Dissidenten ist die Regel. Korruption ist allgegenwärtig. Diese politischen Missstände allein hätten aber nicht gereicht für den Aufstand. Araber dürsten gewöhnlich nicht nach echter Freiheit und Demokratie.
Es ist eigentlich eine zweite Gruppe der Missstände, die ökonomischen, die für die Revolte ausschlaggebend gewesen sind: Seit einiger Zeit steigen die Preise von Grundnahrungsmitteln und anderen wichtigen Lebensnotwendigkeiten wie Benzin. Für die Unterschicht, aber auch für die untere Mittelschicht, ist das unerträglich, besonders für die Arbeitslosen. Aus diesem Grund hat es auch in der Vergangenheit schwere Unruhen gegeben.
Wie bei den früheren, so auch bei den aktuellen Unruhen spielt die hohe Jugendarbeitslosigkeit eine besonders wichtige Rolle. In Tunesien sind zwei Drittel der Bevölkerung unter 30 Jahre alt, und unter ihnen sind 70% arbeitslos. In Ägypten sind 50% der Bevölkerung unter 30 Jahre alt, und 90% der Arbeitslosen gehören zu dieser Gruppe. Für die meisten jungen Menschen gibt es keinen Job, keine Wohnung, kein dies und kein das. Die Aussichten sind zudem düster. Viele wollen nach Europa.
Anders als bei den früheren, gibt es bei den gegenwärtigen Unruhen einen Zusammenhang zwischen den beiden Ursachengruppen. Denn die Demonstranten hoffen, dass eine bessere, demokratische Regierung ihre materielle Lage verbessern würde. Ein jünger ägyptischer Demonstrant sagte einem TV-Journalisten: "Lebensmittel sind zu teuer. Was sollen wir tun? Die Regierung soll uns geben, was wir brauchen."
Diese Kurzbeschreibung der Faktenlage dient hier nur als Vorrede zu meinen Fragen und Gedanken. Ich bezweifle, dass die Hoffnung der Demonstranten, ein demokratisches Regime würde ihre materielle Lage verbessern, realistisch ist. Nicht jeder Politiker ist korrupt, und nicht jeder wird korrupt, wenn er an die Macht kommt. Ich will auch nicht sagen, wie es die Anarchisten ausdrücken, wenn Wahlen etwas Wesentliches ändern könnten, würden sie nicht stattfinden.
Ich will sagen, dass selbst ein hundertprozentig nicht-korrupter Präsident, der sogar ein Freund der Unterschicht ist, nichts Wesentliches tun kann, um ihre materielle Lage zu verbessern. Beispiel Evo Morales, Präsident von Bolivien. Seine Regierung musste neulich den Benzin- und Dieselpreis erhöhen, weil die hohen Subventionen nicht mehr tragbar waren. Prompt gab es Protest. Leute, die ihn vor einem Jahr gewählt hatten gingen auf die Straße, demolierten Regierungsgebäude. Die Polizei, die nicht schießen durfte, flüchtete vor dem Zorn der Demonstranten. Morales versuchte, sein persönliches Ansehen in die Waagschale zu werfen. Das nutzte nichts. Er musste schließlich die Preiserhöhungen rückgängig machen. Auch die algerische Regierung musste wieder die Lebensmittelpreise senken, um wieder Ruhe zu haben.
Aber wie lange kann es so weitergehen? Im Zeitalter des Peak-Oil, bei steigenden Rohöl-, Erdgas und Kohlepreisen, kann keine Regierung mehr Energiepreise hoch subventionieren. Steigende Energiepreise sind zudem einer der mehreren Faktoren, die unausweichlich Lebensmittelpreise in die Höhe treiben.
Ein Faktor, der es unmöglich macht, die genannten Probleme im Sinne der Aufständischen zu lösen, ist die unaufhörlich steigende Bevölkerungszahl. Als Tunesien 1957 politisch unabhängig wurde, lebten da etwa 5 Millionen Menschen; heute leben da 11 Millionen. In Ägypten leben 87 Millionen Menschen, und die Bevölkerungszahl wächst jährlich um 1,9%. Auch in Bolivien wächst sie jährlich um 1,9%. Sinnvolle Arbeitsplätze für eine steigende Anzahl von teils akademisch ausgebildeten jungen Menschen zu schaffen, ist insbesondere in einer Zeit schwierig, in der in den meisten Ländern die Wirtschaft stagniert. Aber, auf Menschen bezogen, ist auch die Tragfähigkeit der Erde begrenzt. Ja, sie ist längst überschritten. Auch ein "Sozialismus des 21. Jahrhunderts", die Vision von Evo Morales, kann diese Realitäten nicht aus der Welt schaffen.
Die fetten Jahre sind vorbei – die Griechen, die Iren, die Briten, die Amerikaner usw. merken das schon. Das Gros der Einwohner der unterentwickelten Länder werden sie nie erleben. Sozialismus, Freiheit, Demokratie usw. sind Ideale, die wir hegen sollen, aber ohne sie mit Wohlstandserwartungen zu verbinden.

1 Kommentar:

  1. Vielen Dank für die inspirierenden Texte. Ich bin bei etlichen Thesen skeptisch (sind z.B. die indigenen Bewegungen der Andenländer nicht wichtiger als die linken Präsidenten und sind ihre Ideen - Stichwort sumak kawsay - nicht tragfähiger?), aber es ist endlich einmal das richtige Thema!

    Die Zeitschrift Kulturaustausch bringt im aktuellen Schwerpunkt "Über das Wachstum und seine Grenzen" nicht nur das Übliche (Tim Jackson), sondern auch einen Text der palästinensischen Schriftstellerin Adania Shibli: "Wenn Verzicht unmöglich ist" (leider nicht online). Mit dem Titel sind die drei Viertel der Bewohner der arabischen Welt gemeint, die ein Durchschnittseinkommen von ein bis fünf Dollar pro Tag haben. Shibli schreibt:

    "Wer im Überfluss ertrinkt, darf über das Sein sinnieren, aber nicht nur unter dem Aspekt menschlicher, moralischer oder ökologischer Werte, wobei durch den Verzicht auf mehr und durch das Begnügen mit weniger vermieden werden soll, dass es bald nur noch wenig gibt. Es gilt auch zu bedenken, dass 'mehr' gegenwärtig auf dem 'Weniger' für die vielen aufbaut, denen man nicht die Verantwortung für eine drohende Krise geben kann, in der sie nicht die Hauptrolle spielen, und man darf sie ihnen auch nicht als Strafe aufdrängen."

    Herzliche Grüße und viel Erfolg mit dem Blog

    Mika Latuschek
    http://twitter.com/greenhouse_info

    Links:
    http://www.ifa.de/pub/kulturaustausch/archiv/ausgaben-2011/weniger-ist-mehr/
    http://de.wikipedia.org/wiki/sumak_kawsay

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