Freitag, 27. Mai 2011

Kongress "Jenseits des Wachstums!?" --
Eindrücke und Gedanken

Unterwegs zum von Attac-Deutschland organisierten Kongress "Jenseits des Wachstums!?" in Berlin, wo ich an einer Podiumsdiskussion teilnahm, las ich einen Bericht in der SZ (20.5.11) über Protestaktionen in Spanien, die stark den Aktionen der ägyptischen Demokratiebewegung ähnelten. Der Kongress war schon seit etwa einem Jahr in Vorbereitung. Der Anlass dafür war die globale, vielseitige Finanz- und Wirtschaftskrise und die große Ökologiekrise mit der Klimakrise als der Spitze des Eisbergs. Aber auch die großen, teils gewalttätigen, Proteste in Athen und London wirkten als ein Hintergrund. Die Protestaktionen in Spanien, besonders die in Madrid, kamen jetzt dazu.
Der Untertitel des Kongresses lautete "Ökologische Gerechtigkeit, Soziale Rechte, Gutes Leben". Ich bekam nicht den Eindruck, dass sich die Kongressteilnehmer, inklusive der Organisatoren und der Referenten, des Widerspruchspotentials zwischen den im Titel und Untertitel benutzten Begriffen bewusst waren. Denn es stellt sich die Frage, ob die sozialen Rechte, die bis vor dem Ausbruch der gegenwärtigen Krise in Westeuropa gültig waren, und das heutige westeuropäische Verständnis eines guten Lebens ohne weiteres mit dem Prinzip der ökologischer Gerechtigkeit vereinbar sind? Die Frage wurde aber auf dem Kongress gar nicht gestellt.
Der SZ-Reporter schreibt aus Madrid: es sind "gut bis exzellent ausgebildete Kinder des Bürgertums, 20-, 30-jährige Männer und Frauen…, die die Perspektivlosigkeit, die beruflichen Warteschleifen namens Praktika, die schlecht bezahlten Jobs, die unsicheren Renten" usw. beklagten. Er berichtet: "Viele der jungen Leute mit Hochschuldiplom fühlen sich mit ihren 600-Euro-Jobs längst als Sklaven. … Fast jeder zweite junge Spanier ist ohne Job." Eine solche Lage stellt die totale Negation des Traums eines guten Lebens dar, den die jungen Spanier in Madrid, aber auch junge Griechen, Briten und Deutsche, hegen.
Auf dem Kongress aber erzählte uns Frau Martinez aus Ecuador, dass dort sowohl die Regierung als auch die Mehrheit des Volkes ein im Regenwaldgebiet neu entdecktes Ölfeld nicht ausbeuten wollen –. um den Regenwald zu schützen und zur Begrenzung des CO2-Ausstoßes beizutragen. Wenn aber dieses Ölreichtum unausgebeutet einfach tief im Boden liegen bleibt, frustriert das natürlich viele exzellent ausgebildete, aber arbeitslose, junge Ecuadorianer. Die Idee der Regierung, dass der reiche Westen im Namen der ökologischen Gerechtigkeit Ecuador für diesen Verzicht finanziell kompensieren soll, war von Anfang an illusorisch. Würde der Westen diese Forderung (und andere ähnliche) erfüllen, hätte er noch weniger Mittel für die Erfüllung der Träume der Jugend in Madrid, Athen und London.
Die Formulierung "jenseits des Wachstums" ist ziemlich vage. Es klingt, als bestünde ein Konsens darüber, dass es Grenzen des Wachstums gibt und dass diese schon erreicht oder gar überschritten sind. So einfach war es aber auf dem Kongress nicht. Auf den Veranstaltungen, bei denen ich anwesend war, wurde häufig die Meinung vertreten, dass es möglich sei, dank weiterem, umweltfreundlichem technologischem Fortschritt diese Grenzen nach oben zu verschieben. Oder man sagte, während einige Branchen schrumpfen müssten, müssten andere wachsen. Zur Begründung wurde zum einen die Überzeugung geäußert, dass durch Effizienzsteigerung Wirtschaftswachstum vom Ressourcenverbrauch entkoppelt werden könne, so dass während die Wirtschaft weiterhin wachse, der absolute Ressourcenverbrauch sinke. Zum anderen ging man fest davon aus, dass in drei bis vier Jahrzehnten der gesamte Energiebedarf Deutschlands, gar der Welt, durch erneuerbare Energien gedeckt werden würde.
Um solche illusorischen Glaubensbekenntnisse zu hören, hätte man nicht zu diesem Kongress fahren müssen. Man hört und liest so was fast jeden zweiten Tag – besonders von Parteien, aber auch von großen Umweltverbänden. Der Haupttitel des Kongresses aber ließ einen denken, dass man da nach einer neuen, einer anderen Wirtschaftsform oder -richtung suchen will, weil weiteres Wirtschaftswachstum unmöglich geworden ist – nicht zuletzt wegen seiner hohen ökologischen Kosten –, weil gar eine Schrumpfung absolut notwendig geworden ist. Diese letzte Meinung wurde zwar auch von zwei Referenten geäußert. Aber ich bekam nicht den Eindruck, dass sie ernst genommen wurde.
Der Kongress litt an einer Schwäche: nämlich, er wurde von etablierten partei- und gewerkschaftsnahen Stiftungen gesponsert. Deren Vertreter sowie Vertreter von großen, etablierten Umweltorganisationen mussten halt die Positionen ihrer Partei bzw. Organisation vertreten. Diese glauben bekanntlich immer noch fest an die Möglichkeit eines nachhaltigen Wachstums. Ralf Füchs von der Grün-nahen Heinrich-Böll-Stiftung meinte sogar, es würde bis 2050 möglich sein, dass die 9 Milliarden Menschen, die dann in der Welt leben würden, etwa den gleichen, aber bis dahin nachhaltigen, Wohlstand genießen würden wie die Westler. Ich halte eine solche Hoffnung für lächerlich und auch gefährlich.
Bei solchen hoch optimistischen Zukunftsszenarien erübrigt sich natürlich die Frage, ob eine Überwindung des Kapitalismus notwendig ist. Zwei Referenten, die für eine Schrumpfung der hoch entwickelten Wirtschaften plädierten, bzw. sie für unvermeidlich hielten, meinten, für einen solchen Prozess sei eine Art Sozialismus notwendig. Viele thematisierten die Frage gar nicht, viele wichen ihr aus. Einige andere redeten einer "solidarischen Ökonomie" das Wort, wobei unklar bleibt, ob eine solche Ökonomie nur ein Sektor innerhalb einer kapitalistischen Volkswirtschaft sein soll oder mehr.
Der Madrider SZ-Reporter zitiert aus einem Plakat: "Wenn ihr uns nicht träumen lässt, bringen wir euch um den Schlaf." Aber die herrschende Klasse und ihre Parteien brauchen keine Angst zu haben. Denn "die Empörten", wie sich die Demonstranten dort nennen, sind nur empört, sie sind keine Systemveränderer. Auf einem anderen Plakat steht: "Wir sind keine Systemfeinde – das System ist uns gegenüber feindlich." So ist es, leider.

Montag, 23. Mai 2011

Pachamama und "Deep Ecology"

Politische Entwicklungen in Bolivien habe ich schon in zwei meiner Blog-Texte thematisiert. Das Land ist zurzeit nicht nur für die Linken interessant – d.h. nicht nur wegen der Bemühungen der derzeitigen Führung, dort einen "Sozialismus des 21. Jahrhunderts" aufzubauen – sondern auch für Umweltschützer, weil seine mehrheitlich indianische Führung ein ziemlich ungewöhnliches Verständnis der Ökologieproblematik zu haben scheint.
Evo Morales und seine Genossen haben den alten Pachamama-Kult der Hochland-Indianer wieder belebt und zu einem Politikum entwickelt. Es gibt in Bolivien seit einiger Zeit ein "Gesetz der Mutter Erde". Für die Aymara und Quetschua ist die Mutter Erde eine, "Pachamama" genannte, Göttin, der das Leben entspringt. In dem Gesetz, das auch ein Teil der Verfassung ist, werden Mensch und Natur gleichgestellt. Nach Morales "sind die Rechte der Mutter Erde sogar wichtiger als die Menschenrechte" (zit. nach Peter Burghardt, SZ., 27.04.2011). Dieses Gesetz und diese Worte von Morales haben zunächst wohl nur einen symbolischen Wert. Sie symbolisieren die Absicht seiner Partei "Bewegung zum Sozialismus", einem ökologischen Sozialismus Bahn zu brechen.
Auch andere Leute und Parteien hatten sehr viel früher als Morales und seine Genossen den Begriff ökologischen Sozialismus (oder Ökosozialismus) auf ihre Fahne geschrieben. Ich erinnere mich dabei an einen 1982 in Bielefeld von diversen Linken, Grünen und Ökos abgehaltenen Kongress über das Thema Umwelt und Arbeit. Ich erinnere mich an einen Kongress der SPD in den 1980er Jahren und an mehrere in Deutschland veröffentlichte Bücher über dieses Thema. Doch da war nichts ernst gemeint. Was sie alle meinten, war nur etwas mehr Umweltschutz im gegebenen Rahmen einer hoch entwickelten Industriegesellschaft: Wachstum sollte nachhaltiges Wachstum sein. Für richtige Linke sollte diese Industriegesellschaft und diese Art von Wachstum eine sozialistische Prägung haben. Um die Idee den von Arbeitslosigkeit bedrohten Menschen schmackhaft zu machen, wurde immer wieder behauptet, Umweltschutz würde Tausende von neuen Arbeitsplätzen schaffen. Das war alles. Keine Rede von der Gleichstellung von Mensch und Natur, von gleichen Rechten für beide.
Wenn aber die bolivianische Führung die oben zitierte Aussage von Morales ernst meint, wenn sie die sich selbst gestellte Aufgabe ernst nimmt, die Natur vor der Zivilisation zu schützen, dann müsste sie darauf drängen, dass sich die Menschheit von weiten Teilen der zurzeit von ihr fast total besetzten Erde zurückzieht, sie wieder zur Wildnis werden lässt, große Areale von Wäldern, Savannen, Flüssen, Sumpfgebieten usw. so lässt, wie sie momentan sind, ihre eigene Zahl erheblich reduziert und, im Allgemeinen, alle Arten von Wirtschaftswachstum stoppt. Sie müsste der Menschheit knallhart sagen, dass die Erde nicht allein für Menschen da ist, dass auch die anderen Arten – Pflanzen und Tiere, sogar Insekten – Kinder der Pachamama sind, dass auch sie ein Recht auf genügenden Lebensraum haben.
Eigentlich ist dieser letzte Gedanke in den Zielformulierungen Artenschutz und Erhalt der Biodiversität enthalten. Doch wie schlecht es zurzeit mit diesen Zielen bestellt ist, brauche ich meinen Lesern nicht zu erzählen. Schuld daran sind, allgemein gesagt, die wachsende Population unserer eigenen Spezies und unsere wachsenden Wirtschaften. Diese zwei Faktoren sind es, die es notwendig machen, dass wir Menschen immer größere Teile der Erdoberfläche für uns erobern. Zwar läuft dieser Prozess seit dem Neolithikum, seit Beginn der Industriellen Revolution aber hat er sich sehr beschleunigt. Schon in den 1960er Jahren drehte ein Naturfreund einen Film, dem er den Titel gab "No Room for Wild Animals" (kein Raum für wilde Tiere).
Aber gerade die Linken – zumindest die große Mehrzahl von ihnen, die ja mit der bolivianischen Führung sympathisieren – wollen nichts von all dem hören. Den Begriff Wirtschaftswachstum haben sie nur durch taktisch kluge und wohl klingende Begriffe ersetzt: nachhaltiges Wachstum, qualitatives Wachstum, selektives Wachstum, grünes New Deal usw. Und Leute, die die Anzahl von Menschen auf der Erde für zu hoch halten, werden von ihnen pauschal als Rechte beschimpft. Vor etwa drei Monaten hatte ich mit einem alten linken Freund ein Gespräch über dieses Thema. Er meinte, die Weltbevölkerung werde bis 2050 bei 9 Milliarden peaken (d.h. aufhören, weiter zu wachsen), und diese Anzahl von Menschen könnten problemlos ernährt/versorgt werden. Die Frage, wie viel Lebensraum dann noch für andere Arten übrig bliebe, konnte ich nicht stellen. Der Freund musste gleich gehen. Keine Zeit für politisch unkorrekte Fragen.
Eigentlich sind Rechte der Natur und nichtmenschlichen Lebens keine Erfindung der bolivianischen Führung. Auf der Grundlage der jahrzehntelangen Naturschutzbewegung in Europa und den USA formulierten in den 1980er Jahren Denker wie Arne Naess, Bill Devall und George Sessions eine philosophische Position, die sie Deep Ecology (Tiefenökologie) nannten. Das erste und wichtigste der acht Grundprinzipien ihrer "Tiefenökologie-Plattform" lautet: "Das Wohlbefinden und Blühen des menschlichen und nichtmenschlichen Lebens auf der Erde haben einen Wert aus sich selbst heraus (intrinsischen, inhärenten Wert). Diese Werte sind unabhängig von der Nützlichkeit der nichtmenschlichen Welt für menschliche Zwecke."
Die Tiefenökologen unterscheiden zwischen ihrer Position und der der großen Mehrheit der Umweltschützer, die sagen, der Mensch brauche Umweltschutz, der auch wirtschaftlich nützlich sei, weil dadurch viele Arbeitsplätze bei der Umweltschutztechnologie geschaffen werden könnte. Diese Haltung nennen sie shallow ecology (seichte Ökologie).
Morales und seine Genossen wussten wohl kaum etwas von deep ecology. Diese Ökophilosophie ist sogar in den intellektuellen Kreisen Deutschlands relativ unbekannt. Es ist ein großes Verdienst der Bolivianer, dass sie ihre Kombination von Tiefenökologie und Sozialismus (ihre Version des Ökosozialismus) in unser Bewusstsein gerückt haben. Ich wünsche ihnen auch in der Praxis viel Erfolg und den Mut, den vielen Widerständen zu trotzen.