Dienstag, 28. Juni 2011

Momentaufnahme in der langen Krise

Von der jüngsten weltweiten Wirtschafts- und Finanzkrise hat sich die Welt immer noch nicht erholt. Deutschland ist ein Ausnahmefall. Dreieinhalb Jahre Krise; das ist außergewöhnlich lang. Zwar dauerte die Große Depression der 1930er Jahre ein ganzes Jahrzehnt, bis der Zweite Weltkrieg sie beendete. In den folgenden dreißig Jahren aber – dank hauptsächlich dem Kriegskeynesianismus, der eine neue große Depression verhinderte – meinten alle Ökonomen, sie hätten genug über die Geheimnisse und Prinzipien der kapitalistischen Wirtschaftsdynamik gelernt, um sagen zu dürfen, dass es keine große Krise mehr geben würde.
Die gegenwärtige Krise aber will nicht enden. Die Staatsverschuldungskrise hat die Banken- und Finanzkrise von 2008–2009 abgelöst. Griechenland steht vor dem Bankrott. Wenn es pleite geht, gehen wahrscheinlich auch Irland, Island, Portugal und Spanien pleite. In Großbritannien, Italien, den USA usw. ist die Erholung sehr schwach. In den USA ist die offizielle Arbeitslosigkeit immer noch höher als 9%. Zudem droht da wieder eine Dot-com-Blase zu entstehen. Die US-Bundesregierung kann im August dieses Jahres zahlungsunfähig werden, wenn nicht die gesetzliche Schuldenobergrenze nach oben verschoben wird. In vielen großen Privatbanken – seit kurzem selbst in der Europäischen Zentralbank – schlummern große Mengen von wertlosen Wertpapieren.
Man kennt solche Fakten. Doch was ist die Erklärung für eine solche Faktenlage? Warum ist es so schwierig, Griechenland mit noch ein paar hundert Milliarden Euro Kredit aus der Krise zu helfen. Warum tut sich der US-Kongress so schwer, die Schuldenobergrenze des Bundes nach oben zu verschieben? Warum denken die Regierenden in den oben genannten Problemländern, rabiate Sparmaßnahmen durchsetzen zu müssen, um die Schuldenlast in den Griff zu bekommen, wodurch sie ja garantiert die Erholung verhindern? Warum tut das auch die spanische Regierung, trotz der offiziellen Arbeitslosigkeitsrate von 21%? Warum schweigen momentan alle Keynesianer, wo doch 2008–2009 gerade weltweite große keynesianische Konjunkturprogramme eine neue große Depression abwenden konnten?
Hier hilft ein Blick auf Asien. Die zwei großen Wirtschaftsmächte, China und Indien, die ja stolz darauf waren, dass die schwere Krise von 2008–2009 ihnen nichts anhaben konnten, leiden jetzt an hoher Inflation, die mit ihren hohen Wachstumsraten von jährlich 8 bis 10 Prozent zusammenhängt. In beiden Ländern verursacht die Inflation Rückgang des Realeinkommens, d.h. der Kaufkraft, der Bevölkerungsmehrheit. Die Regierenden fürchten große Unruhen. In Indien gab es schon Massendemonstrationen. Darum versuchen die Regierenden der beiden Länder das Wirtschaftswachstum zu bremsen, um die Inflation zu kontrollieren. Sogar die Europäische Zentralbank hat schon signalisiert, dass sie zum selben Zweck bald den Leitzinssatz erhöhen würde.
Den Zusammenhang zwischen Wirtschaftswachstum und Inflation müssen wir verstehen. Solange in der Welt riesige Mengen von leicht zugänglichen und kostengünstig abbaubaren bzw. extrahierbaren Ressourcen vorhanden waren, konnte Wirtschaftswachstum problemlos vorangetrieben werden. In einer solchen Lage hing Inflation in der Regel mit übermäßigen Lohnforderungen der Arbeiterklasse zusammen. Heutzutage ist das aber kein maßgeblicher Faktor. Wie wir wissen, sinkt seit etlichen Jahren überall das Realeinkommen der abhängig arbeitenden Menschen. Heute sind der maßgebliche Grund für Inflation die seit schon einigen Jahren steigenden Preise der vom Volk und der Wirtschaft benötigten Gütern und Ressourcen: Lebensmittelpreise, Energiepreise, Preise von Industriemetallen, Preise von Kunstdüngern etc. Sogar Preise vom Metallschrott steigen. Heutzutage werden in Deutschland sogar stillgelegte Bahngleise, Stromkabel, Regenwasserrohre gestohlen. Diese Lage lässt sich mit einem Begriff zusammenfassen: die Grenzen des Wachstums, die schon sehr spürbar geworden sind. Wenn in einer solchen Lage der Staat versucht, mittels Schuldenmachen die Konjunktur anzukurbeln oder die Routine-Staatsaufgaben zu finanzieren, dann ergibt sich nur Inflation.
Dabei ist auch inzwischen, was den Wohlstand betrifft, die Aussagekraft des Bruttoinlandprodukts (BIP) als ziemlich gering erkannt worden. Es gibt schon mehrere, sogar hoch offizielle, Versuche, neue, überzeugendere Kriterien für die Messung des Wohlstands zu erarbeiten. Es wird gefordert, dass durch Naturzerstörung erzielte Erträge sowie defensive und kompensatorische Ausgaben als Kosten und nicht mehr als Einkommen gebucht werden.
Vor diesem Hintergrund muss man die zahlreichen Protest-Demos in vielen Ländern als bloße Abwehrkämpfe verstehen. So versteht man auch die zerstörerische Wut der jungen Leute in London und Athen besser. Wenn aber die Grenzen des Wachstums erreicht sind, wenn aber trotzdem eine Minderheit des Volkes versucht, immer mehr von dem Nationaleinkommen an sich zu reißen, dann kann sie das nur auf Kosten der Mehrheit tun. Die "Empörten", wie sich heutzutage die jungen Protestierenden in Europa nennen, verstehen leider diese Zusammenhänge nicht. Sie verstehen nicht, dass die Menschheit als Ganzes nicht länger "über ihre Verhältnisse", mit anderen Worten, über die Tragfähigkeit der Erde, leben kann. Ein Volk könnte das, aber nur wenn es andere Völker ausbeutet. In Indien mag die genannte Minderheit 200 Millionen stark sein, in China vielleicht 300–400 Millionen. Aber verglichen zu der Gesamtbevölkerung des jeweiligen Landes sind sie immer noch eine Minderheit.
Wenn man da auch bedenkt, dass in Indien und China kein nennenswerter Sozialstaat existiert, dass der Staat gegen die Proteste der Armen mit brutaler, oft tödlicher, Gewalt vorgeht, dann versteht man auch die gewaltsamen Kämpfe der Ausgebeuteten und Unterdrückten in diesen Ländern. In Indien schwelt seit Jahren ein bewaffneter Kampf der von den Maoisten geführten Ureinwohner gegen den Staat und Industrie- und Bergbaukonzerne. In China gibt es seit Jahren regelmäßig gewaltsame Unruhen auf dem Land. Neulich explodierten dort Autobomben vor Regierungsgebäuden, und einmal eine Benzinbombe in einer Bank.
Oft sind die Auslöser der Proteste, die Polizeibrutalität nach sich ziehen, Enteignung von Acker- oder Weideland zugunsten von Straßen- oder Industrie- oder Bergbauprojekten. Die Betroffenen sind nicht bereit, ihr Land herzugeben, selbst wenn ihnen dafür eine Entschädigung angeboten wird. Von ihrem Land können sie leben, sagen sie, nicht aber von einer einmaligen Entschädigungszahlung.
Die allgemeine Erklärung für die heutige missliche Lage in der Welt ist: die Erde kann uns nicht mehr soviel geben, wie wir von ihr haben wollen.

Freitag, 10. Juni 2011

Elefanten versus Menschen

Ich möchte heute den Lesern dieses Blogs den folgenden Text von Denis D. Gray empfehlen . Er sollte zusammen mit meinem schon erschienen Blog-Text "Pachamama und Deep Ecology" gelesen werden. Der Zusammenhang, denke ich, braucht nicht extra erklärt zu werden.

Einige essen Chili

Am Fuße des Himalaya kämpfen Bauern gegen Elefanten, deren ursprünglicher Lebensraum beinahe völlig verschwunden ist.
Wenn im indischen Dorf Jia Gabharu die Reisernte bevorsteht, bezieht eine Gruppe junger Männer jeden Abend bei Sonnenuntergang Posten und hält Ausschau nach Elefanten. Sie kommen von den Ausläufern des Himalayas. Ein fünf Kilometer langer Elektrozaun soll die grauen Riesen von den Feldern fernhalten. Außerdem sind mit Speeren, Fackeln, Gewehren und Gift bewaffnete Patrouillen unterwegs. Der Kampf zwischen Menschen und Elefanten tobt im Unionsstaat Assam seit Jahren. Tierschützer fürchten, dass die Dickhäuter ihn bald endgültig verloren haben.
Immer weniger Wald und Grasland haben die Elefanten in Assam zur Verfügung. Ihr Lebensraum schrumpft in insgesamt 13 asiatischen Staaten. In Indien und Sri Lanka, wo der Konflikt schon lange eskaliert ist, kommen jedes Jahr mehr als 250 Menschen und mehr als 400 Elefanten ums Leben. Auch aus Indonesien, Malaysia und Thailand werden regelmäßig Todesfälle auf beiden Seiten vermeldet. Zum Vergleich: Haie töten im Jahr weniger als ein Dutzend Schwimmer.
Die Dickhäuter sterben an Elektrozäunen. Sie werden mit Gewehren und vergifteten Pfeilen erschossen. Oder sie trinken Reiswein, der für sie mit Gift versetzt wurde - aus Notwehr. In der Ortschaft Galighat im Osten Assams tötete ein Elefantenbulle kürzlich binnen eines Monats fünf Menschen. Sechs Häuser wurden zerstört und Dutzende Bananenstauden abgefressen. "Wir haben die Regierung um Hilfe gebeten, aber nichts ist passiert. Wir haben alle nur möglichen Vorkehrungen getroffen. Wir haben gebetet. Aber nichts funktioniert", sagt der Dorfbewohner Mohammed Abul Ali. "Wir können nicht gemeinsam existieren."
Umweltschützer stimmen dem im Prinzip zu. Trotz mehrerer Schutzprojekte steht es schlecht um die friedliche Koexistenz. Elefanten sind mittlerweile aus 95 Prozent ihres einstigen Lebensraums verschwunden, der sich vom Mittelmeer bis zum Gelben Fluss in Nordchina erstreckte. Während in Thailand Anfang des 20. Jahrhunderts noch rund 100000 Elefanten lebten, sind es heute weniger als 6000. Die Ursachen des dramatischen Rückgangs der Populationen seien jedem Dorfbewohner geläufig, sagt Bhupendra Nath Talukdar vom "Assam Forest Department": Mit der Rodung der Wälder verlören Elefanten ihre sicheren Rückzugsorte und fänden nichts mehr zu fressen. Das treibe sie in die Dörfer, wo sie "ganz leicht besiegt" würden, wie Talukdar meit. "Es war ihr Land, und jetzt haben wir es besetzt."
So leicht ist der Kampf gegen die Tiere allerdings nicht. Sie zu töten, ist in Asien offiziell verboten, und Schutzmaßnahmen auszutüfteln eine große Herausforderung. Elefanten sind schlau und lernen schnell. Sie fallen kaum zweimal auf denselben Trick herein. Der Ranger Gopal Deka aus Jia Gabharu berichtet, dass ein Tier den um das Dorf herum errichteten Elektrozaun erst ausgiebig betrachtet und dann einfach mit dem Ast eines Bananenbaums niedergedrückt habe.
An traditionelle Abschreckungsmittel wie Feuerwerk, Trommeln oder Fackeln haben sich viele Herden schnell gewöhnt. Und manche entwickelten Appetit auf lange verschmähte Pflanzen wie Zitrusfrüchte, die bis dato in "Pufferzonen" angebaut wurden. In Bhutan wurden Elefanten beobachtet, die Orangen fraßen. In Sri Lanka ließen sich einige Chilis schmecken. Die feurigen Schoten gelten bis heute dennoch als bestes Mittel zur Verteidigung. Sie werden weiterhin als Paste, mit Schmierfett und Tabak gemischt, auf Zäune aufgetragen.
Die Elefanten werden auf der Futtersuche auch listiger. Ein Bulle habe gelernt, Tore zu öffnen und sich in Küchen und Lagerräumen zu bedienen, ohne Schäden anzurichten, berichtet ein Mitarbeiter des "Assam Haathi Projekts". Ein Quartett männlicher Tiere habe sich auf das Umstellen von Häusern verlegt: zwei vorn, einer an der Rückseite, damit die Bewohner nicht flüchten und Verstärkung holen. Der vierte bediene sich an den Vorräten. Die Beute werde später redlich geteilt.
Gewalttätige Elefanten seien in der Regel Außenseiter, betont Dinesh Choudhury, dessen Familie seit Generationen mit den Dickhäutern arbeitet: von der Herde ausgestoßene junge Bullen beispielsweise, alte Tiere mit schmerzhaften Verletzungen oder Bullen im Hormonrausch. Ganze Herden fallen nur selten in Ortschaften ein.
Früher zogen die Tiere ohne Probleme an menschlichen Siedlungen vorbei. In den vergangenen Jahrzehnten wurden mehr als 65 Prozent der Wälder am Fuß des Himalayas gerodet. Auch das Grasland ist verschwunden. Deshalb müssen die Elefanten heute durch Ortschaften und Plantagen wandern. Ihre Korridore sind von Straßen, Bahngleisen und Dämmen durchzogen. Sie geraten zwangsläufig mit den Menschen in Konflikt.
Ernstzunehmende Lösungsansätze gibt es nicht, sagt Hiten Kumar Baishya vom WWF. "Politiker haben kein Interesse an Wildtieren. Sie sind ihnen nur lästig. Wildtiere wählen nicht." Es gebe deshalb wohl keine Chance, auch nur ein Prozent der zerstörten Wälder wieder aufzuforsten. "Wir können nicht einmal das schützen, was wir haben."
Dinesh Choudhury ist ähnlich pessimistisch. "Das Schicksal der Assam-Elefanten? Wir werden nur ihre Gräber sehen, sonst nichts."
Denis D. Gray/AP, Junge Welt 26.05.2011