Sonntag, 25. Dezember 2011

Melonenpreise oder Gottesstaat? —
Jahresrückblick und einige Schlüsse in Zusammenhang

Im Januar dieses Jahres begann ich mit dieser Serie von Kommentartexten. Vielleicht darf ich jetzt, Ende Dezember, versuchen, summarisch zu zeigen, in welcher Richtung sich die Menschheit in den zwölf Monaten voller mehr oder weniger weltbewegenden Ereignissen entwickelt hat, was klar geworden ist und was für Schlüsse wir daraus für die Zukunft schließen müssen.
Beginnen wir mit einer knappen Skizze der Lage bei der materiellen Basis. Danach gehen wir zum politischen Überbau über. Es ist klar geworden, dass die gegenwärtige Weltwirtschaftskrise keine vorübergehende Sache ist, wie es die früheren Wirtschaftskrisen waren. Sie begann 2007, und noch signalisiert kein Licht das Ende des Tunnels. Die Schuldenkrise in Europa entzieht sich jeder Lösungsidee. Wenn die Staaten eisern sparen, vertieft sich die Rezession, und dann gibt es noch weniger Steuereinnahmen. Wenn sie die Konjunktur ankurbeln wollten, müssten sie noch mehr Geld leihen, das ihnen Investoren nicht geben wollen, oder nur zu viel höheren Zinssätzen als früher. Neue Schulden zu erhöhten Zinssätzen machen, um alte Schulden zu bedienen, vergrößert nur die Schuldenlast, kurbelt die Konjunktur nicht an.
Madame Lagarde, Chefin des IWF, hat uns neulich in dieser Sache reinen Wein eingeschenkt: "Der Ausblick auf die Weltwirtschaft ist im Augenblick … ziemlich düster". Sie fürchte eine neue große Depression wie in den 1930er Jahren (SZ, 17.12.2011). "The Party is Over", lautet der Titel einer geplanten BBC-Sendung über die wirtschaftliche Lage in Europa. Außer in Deutschland steigt fast überall die offizielle Arbeitslosigkeit, oder sie verharrt auf hohem Niveau. In Spanien beträgt sie 23 Prozent, bei jungen Leuten über 40%. Der Jobmarkt wird zunehmend zu einem Prekariatsmarkt. Nach der US-Statistikbehöde können 48% der US-Amerikaner als arm gelten. Das reale Durchschnittseinkommen aller US-Familien ist seit 2007 um 6,7% gesunken (JW. 20.12.11). Die zwei ehemaligen Lokomotiven, die die Weltwirtschaft aus der Krise ziehen sollten, China und Indien, verlieren an Zugkraft.
Die Rohstoffe werden immer knapper. Ihre Preise steigen weiter oder bleiben trotz Stagnation oder gar Rezession in der Weltwirtschaft hoch. Frau Merkel reist höchstpersönlich sogar in die Mongolei auf der Suche nach sicheren Rohstoffquellen für die deutsche Industrie. Und Bergbauingenieure bohren nach vielen Jahrzehnten wieder im Erzgebirge, um minderwertige Zinnerz zu fördern.
Was die Lage der Umwelt betrifft, sehen alle schwarz. Die UN-Klimakonferenz in Durban ist gescheitert, weil kein Staat den erreichten Wohlstand bzw. das Recht auf nachholende Entwicklung aufgeben wollte. Verbindliche Beschlüsse zum Klimaschutz sind bis 2020 aufgeschoben worden. Vattenfall musste wegen Widerstand der Bevölkerung ein Versuchsprojekt, CO² in unterirdischen Hohlräumen zu speichern, fallenlassen. Die Solarmodulindustrie in westlichen Industrieländern leidet gerade unter einer Krise. Obama wird demnächst die Forderung der Republikaner akzeptieren müssen, die Pipeline "Keystone XL" bauen zu lassen, die Öl (einschließlich des Öls aus Ölsand) von Kanada bis zu den Raffinerien am Golf von Mexiko transportieren soll.
Gerade in einer solch schlechten Lage der materiellen Basis begannen die Araber ihre demokratische Revolution. Und in Europa und den USA begannen die Occupy-Bewegung der Empörten und die teils gewalttätigen Protestdemos der Wütenden gegen die Sparpolitik ihrer jeweiligen Regierung.
Der Spruch "zuerst kommt das Fressen, dann die Moral" hat leider immer noch seine Gültigkeit. Die Occupy-Bewegten in den USA und Europa und die gewalttätigen Protestierenden in Athen und London wollen hauptsächlich eines: Sie wollen ihren bis 2007 gewohnten Lebensstandard zurückgewinnen bzw. sich einen höheren Anteil an dem schrumpfenden Kuchen sichern, als den, den die Regierung ihnen geben will. Beim Arabischen Frühling hingegen schien es anfangs anders zu sein. Die Hunderttausende, die in Tunesien und Ägypten gegen die Diktatoren kämpften, forderten scheinbar hauptsächlich Freiheit, Demokratie, Menschenrechte und freie Wahlen.
In beiden Ländern haben inzwischen freie Wahlen stattgefunden. Gewonnen haben aber nicht die Kämpfer der demokratischen Revolution, sondern die Islamisten. Nach dem anfänglichen Schock fanden die enttäuschten jungen Revolutionäre auch Erklärungen. Einer von ihnen sagte: "Wähler haben das Gefühl, dass säkulare Parteien in der Vergangenheit korrumpiert waren und dass sie den Lebensstandard nicht erhöht haben. … Der Preis von Zucker, der Preis von Reis – das ist, was die Wähler interessiert." In einem anderen Bericht liest man: in Ägypten hatte es zwischen 2006 und 2008 viele Streiks und Proteste von Fabrikarbeitern gegeben. Es gab 2008 sogar einen Generalstreik. Als der Aufstand begann, waren die Forderungen grundsätzlich: "Ein Ende der Korruption und der Polizeibrutalität, unabhängige Justiz, bezahlbare Lebensmittel, bessere Krankenversorgung, höhere Löhne."
Bei solchen Forderungen wundert es niemand, dass die Islamisten bei den Wahlen gewonnen haben. Denn, wie ein junger Revolutionär sagte: "Die Leute denken, wenn die Kandidaten gottesfürchtig sind, werden sie kein Schmiergeld annehmen." Und, wie ein amerikanischer Reporter schrieb, "Der erste Schlüssel zum Erfolg der [Muslim-]Bruderschaft: ihre Büros sind Sozialhilfeagenturen: Bürger kamen vorbei, um sich Decken für den Winter zu erbitten, und die Partei teilte sie aus. … Mehrere Leute baten um Hilfe bei Bezahlung einer Arztrechnung. und sie bekamen sie." Eine freiberufliche Akademikerin sagte: "Salafisten sind gut für Frauen, weil sie bedürftigen Frauen helfen." Die Säkularen/Demokraten waren nie so hilfreich.
Das alles erklärt wohl nur den aktuellen Wahlerfolg der Islamisten. Wie ist aber die langfristige Aussicht? Ein junger Revolutionär sagte: "Sie verteilen Fleisch und Kohle. Aber das ist noch kein Programm. Durchs Frommsein allein schaffst du noch keine Arbeitsplätze." Das ist sehr richtig. Er sagte zuversichtlich: "Langfristig werden sich die Demokraten durchsetzen." Da habe ich meinen Zweifel.
In einer Zeit, in der die Party vorbei ist, in der wohl eine lange große Depression beginnt, werden es weder die Säkularen/Demokraten noch die Islamisten schaffen, die steigenden materiellen Ansprüche einer wachsenden Bevölkerung zu erfüllen. Die Islamisten haben aber den Säkularen/Demokraten gegenüber einen großen Vorteil in punkto Glaubwürdigkeit. Ihr eigentliches Ziel, das sie nicht verheimlichen, ist ein "Gottesstaat", nicht Wohlstand für alle. Die Zukunftsvision der säkularen, Laptop und Handy swingenden Facebook-Demokraten ist zu sehr von Wohlstand-für-alle abhängig. Ayatollah Khomeini sagte einmal, als die Euphorie über die islamische Revolution im Iran abflaute: "Wir haben die Revolution nicht gemacht, damit die Wassermelonen billiger werden". Und das Ideal der Salafisten ist es, das Leben nach dem Vorbild des Propheten Mohammed zu gestalten. Eine konkurrenzfähige alternative Vision seitens der säkularen/Demokraten wäre eine bescheidene und egalitäre, ökologische und sozialistische Gesellschaft.
Ich wünsche ihnen fürs neue Jahr den Mut zu dieser Alternative.

Mittwoch, 14. Dezember 2011

In zwei verschiedenen Dampfern —
Dieselben Leute zur selben Zeit

Vor einiger Zeit lernte ich einen schönen idiomatischen Ausdruck: "Sie sitzen in zwei verschiedenen Dampfern". Gemeint war, dass die zwei betreffenden Menschen bei einer wichtigen Frage total entgegengesetzte Grundpositionen vertraten. Politiker sind aber ein besonderer Typ von Menschen. Sie können offensichtlich manchmal gleichzeitig in zwei verschiedenen Dampfern sitzen, die in entgegengesetzten Richtungen fahren. Sonst kann man nicht erklären, dass sie (z.B. neulich in Durban) sich um eine weltweite Klimapolitik bemühen, die die Erderwärmung auf maximal 2° Celsius begrenzen soll, und dass sie gleichzeitig in Brüssel, Washington, Beijing, Delhi usw. eine Politik verfolgen, die unbegrenztes Wirtschaftswachstum bewirken soll.
Bis dato ist das erhoffte goldene Zeitalter der emissionslosen erneuerbaren Energien nicht angebrochen. Der größte Teil der Weltwirtschaft wird immer noch durch die Verbrennung von fossilen Energieträgern getrieben. 2010 stieg die globale Emission von CO² um 6%. Auch Photovoltaik-Module und Windtkraftanlagen werden immer noch mithilfe von konventionellen Energien hergestellt. Was noch enttäuschender ist, sie brauchen immer noch Subventionen, die in der Gesamtwirtschaft erarbeitet werden muss, das heißt eben durch Verbrennung von fossilen Energieträgern. Da inzwischen Kernenergie in Verruf geraten ist, zu gefährlich zu sein, werden wir in Zukunft den Bau von mehr Kohlekraftwerken erleben.
Ich denke nicht, dass Politiker im allgemeinen dumm sind. Sie verstehen ganz bestimmt den Widerspruch zwischen den zwei genannten Teilen ihrer Politik. Aber sie sitzen in einer Zwickmühle. Sie müssen so tun, als versuchten sie, die Erderwärmung auf 2° Celsius zu begrenzen. Denn die Weltöffentlichkeit, insbesondere die Bevölkerungen von kleinen, armen Ländern wie Tuvalu, Malediven und Bangladesh, die ihre Heimat werden verlassen müssen, wenn die Erderwärmung nicht bald gestoppt wird, sitzen ihnen im Nacken. Andererseits müssen sie auch versuchen, die große Wirtschaftskrise zu überwinden. Denn auch Millionen Arme, Arbeitslose und Sozialhilfeempfänger, aber auch Wirtschaftskapitäne, sitzen ihnen im Nacken. Sie sind alle Wähler und zum Teil Spender von Wahlkampfgeldern. Und die Politiker wollen ja immer wieder gewählt werden.
Sie betreiben also eine große systematische Täuschung, und zwar seit langem. Dabei helfen ihnen auch viele Wissenschaftler, Publizisten und Medienleute. Ehrliche Fans der erneuerbaren Energien hegen nur die vage Hoffnung, dass bis 2050 das Problem gelöst sein wird, weil dann der gesamte Energiebedarf der Welt (zumindest des Vorreiters Deutschland) durch erneuerbare Energien gedeckt werden wird. Aber Politiker und ihre wissenschaftlichen und publizistischen Helfer behaupten schon seit den 1990er Jahren mit großer Selbstsicherheit, in Zukunft würde technologische Entwicklung ermöglichen, dass sowohl der Ressourcenverbrauch sinkt als auch gleichzeitig die Wirtschaft (bzw. der Wohlstand) wächst – um Faktor vier oder Faktor zehn oder gar um doppelten Faktor zehn.
Es gab schon in den 1980er Jahren auch wissenschaftliche Studien, in denen behauptet wurde, dass in den industriell entwickelten Ländern Energieverbrauch pro Einheit Bruttoinlandprodukt stetig sank. Kritiker hatten schon damals auf die trügerische Qualität solcher scheinbar wissenschaftlichen Studien hingewiesen. So schrieben zum Beispiel die Autoren des Brundtland-Berichts (1987): "Doch auch die industriell am fortgeschrittensten Wirtschaften brauchen nach wie vor eine kontinuierliche Versorgung mit Grundfertigwaren. Ob diese im Inland hergestellt oder importiert werden, ihre Produktion wird weiterhin große Mengen Rohstoffe und Energie erfordern … ".
Auch in Bezug auf den CO²-Fußabdruck eines Landes sollte man eine solche kritische Haltung einnehmen, das heißt nicht nur auf die Produktion, sondern auch auf den Konsum der Einwohner des Landes schauen. Dies hat Gabriel Felbermayr, Professor für Wirtschaftswissenschaften an der Universität von München, neulich in einer Studie getan. Er schreibt: "Der CO²-Fußabdruck [eines Landes] … schließt alle Emissionen ein, für die die Konsumenten des betreffenden Landes verantwortlich sind. … Wenn sich ein Land am internationalen Handel beteiligt, dann [ändert sich] sein CO²-Fußabdruck mit dem CO²-Gehalt seines Handels." So gesehen, sei die Behauptung einiger Länder, wie zum Beispiel Deutschlands und Frankreichs, sie hätten seit 1990 ihren CO²-Ausstoß stark reduziert, total falsch. Felbermayr schreibt: "Industrieländer dokumentieren CO²-Ersparnisse. Aber in Wahrheit sind Emissionen nur ins Ausland ausgelagert worden", [indem viele Industrien ausgelagert wurden].
Wenn man diese wissenschaftlich gesehen richtige Sicht der Dinge zu Eigen macht, dann hat man auch etwas Verständnis für den Zorn, mit dem die Chinesen auf den Vorwurf der Westler reagieren, China würde die Umwelt und die Atmosphäre am meisten beschädigen. Ein chinesischer Minister sagte einmal: "Ihr wolltet es doch, dass China die Werkbank der Welt würde . Ihr könnt uns jetzt nicht dafür kritisieren, dass wir die Umwelt beschädigen."
Der Widerspruch zwischen Ökologie und einer industriellen Ökonomie kann nicht bestritten werden. Es geht einfach nicht, dass wir den Kuchen essen und ihn auch intakt behalten wollen. George W. Bush war zumindest ehrlich, als er die USA aus dem Kyoto-Prozess zurückzog – mit der Begründung, dass sonst die Wirtschaft seines Landes schaden nehmen würde. Auch der kanadische Umweltminister sagte die Wahrheit, als er gestern (13.12.2011) den Austritt seines Landes aus dem Kyoto-Protokoll mit dem Satz begründete, Kanada könne seine Verpflichtungen nur erfüllen, wenn es alle Kraftfahrzeuge von den Straßen entferne.
Der Zusammenhang zwischen Wirtschaftswachstum und Umweltdegradation ist unbestreitbar. In der ersten Hälfte der 1990er Jahre, als die Wirtschaften der ehemaligen DDR und der ehemaligen Sowjetunion zusammenbrachen, nahmen auch der CO²-Austoß und die Umweltverschmutzung in den betreffenden Regionen stark ab. Das ist auch ein Teil des Geheimnisses des "Erfolgs" Deutschlands in Punkto CO²-Ausstoß.
Ein geordneter Rückzug vom Wachstumswahn – das heißt kurzfristig, im Klartext, eine gut und gerecht geplante gewollte Wirtschaftsrezession – ist zweifelsohne das beste Rezept für Umweltschutz sowie für Klimaschutz. Eine längerfristige Bevölkerungspolitik im Weltmaßstab, deren Ziel eine Stabilisierung und spätere Schrumpfung der Weltbevölkerung sein muss, ist auch absolut notwendig.

Freitag, 9. Dezember 2011

Gewalt nahm in der Geschichte stetig ab —
Friedensoptimismus und einige Relativierungen

Neulich ist über Gewalt in der Menschheitsgeschichte ein 1200seitiges Buch erschienen*, über das viel diskutiert wird. Es ist ein Thema, das alle Friedensaktivisten interessieren muss. Ich habe den Wälzer noch nicht gelesen. Aber das Thema ist zu wichtig, als dass ich die Veröffentlichung der Gedanken, die mir beim Lesen von ein paar Rezensionen bzw. Diskussionsbeiträgen durch den Kopf gingen, verschieben sollte.
Der Autor Steven Pinker ist ein renommierter Evolutionspsychologe. Seine (oberflächlich gesehen) provokante These, nämlich dass Gewalt in der Menschheitsgeschichte kontinuierlich abnimmt, präsentierte er ursprünglich in einem 2007 gehaltenen Vortrag. Bei dem in unserer Zeit verbreiteten Pessimismus, musste man zuerst skeptisch sein. Aber in den folgenden Jahren lieferten ihm Historiker viele Belege für seine These. Seine Beweisführung ist überzeugend. Aber auch Laien, die von der Menschheitsgeschichte etwas Ahnung haben, könnten seine These bestätigen. Zum Beispiel wissen wir alle, dass seit dem Beginn der Moderne keine Verurteilten lebendigen Leibes auf dem Scheiterhaufen verbrannt oder an der Guillotine enthauptet werden, dass in der Mehrheit der Staaten die Todesstrafe abgeschafft worden ist, dass Foltern von Gefangenen international geächtet wird usw. Nur bei der Statistik über Kriegstote und sonstige durch Gewalt getötete relativ zur Weltbevölkerung, mit deren Hilfe Pinker seine These untermauert, gibt es unter Historikern etwas Zweifel. Pinker hat errechnet, dass ein Mensch, der zwischen 14400 und 1770 v. Chr. lebte, zu durchschnittlich 15 Prozent Wahrscheinlichkeit damit rechnen musste, einer Gewalttat zu erliegen. Im 20. Jahrhundert ist diese Wahrscheinlichkeit auf unter ein Prozent gesunken. Manche Sozialwissenschaftler haben in seiner Arbeit mangelnde Quellenkritik moniert. Aber solche Kritik und Zweifel sind unwichtig.
Pinker bezweifelt, dass prähistorische Gesellschaften friedlich gewesen sind. Diese These sei nur eine Mär. Das können wir im allgemeinen akzeptieren. Und auch wir Laien wissen, dass seit dem Ende des Zweiten Weltkriegs, weltweit die Anzahl von Kriegen stark abgenommen hat. In Europa zum Beispiel hat es seit 1945 einen einzigen Krieg gegeben, nämlich den in Jugoslawien.
Aber können wir aus diesen Fakten, aus dem bisherigen Prozess der Zivilisierung der Menschheit, die Hoffnung ableiten, dass die Menschheit auch in der Zukunft immer friedfertiger wird? Ich hoffe es, aber ich habe auch einige Zweifel.
Mein Argument ist nicht, dass der Mensch von seiner Natur her immer zur Gewalt und Tötung seiner Speziesgenossen bereit ist. Im Laufe der Geschichte und im Prozess der Zivilisation haben wir es, wie Pinker zeigt, auch geschafft, diesen Aspekt unserer Natur weitgehend zu bändigen. Aber mir kommt in den Sinn, dass unsere Selbstzivilisierung mit fast kontinuierlicher Wirtschaftsentwicklung einherging. Wegen des letzteren Prozesses wurde es immer weniger nötig, zu töten, zu plündern, zu rauben und zu stehlen, um zum Wohlstand zu gelangen. Früher mussten ganze Völker zu diesem Zweck Krieg gegen andere Völker führen, ihr Land erobern oder sie mit Kanonenbooten drohen. Seit einigen Jahrzehnten aber ist das immer weniger nötig. Handels- und Investitionsdiplomatie ersetzten zunehmend Kanonenbootdiplomatie.
Das ist auch ein Grund dafür, dass sich imperialistische Mächte wie Großbritannien, Frankreich und die Niederlande in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts aus ihren Kolonien zurückziehen konnten, ohne dadurch zu verarmen. Ganz im Gegenteil, sie prosperierten nach dem Rückzug. Sie entdeckten, man kann Menschen und Länder auch ausbeuten, ohne sie mit Militärgewalt zu unterwerfen. Das bedeutete aber nicht, dass ehemals unterdrückte Menschen und Völker von Gewalt befreit wurden. Nackte und tödliche Gewalt wurde durch eine andere Art von Gewalt ersetzt, die Johan Galtung "strukturelle Gewalt" nannte. Die Weltwirtschaftsstruktur von heute übt inzwischen eine Gewalt auf Menschen und Völker aus, von der sich zu befreien fast unmöglich ist.
Der wichtigste unter den Faktoren, die zu dieser Wirtschaftsentwicklung beitrugen, war die Entdeckung und Einsatz von enormen Mengen von billigen fossilen Brennstoffen. Wir dürfen nicht vergessen, dass trotz aller vollmundigen Erklärungen der Menschenrechte im 18. Jahrhundert – nach der Französischen Revolution und nach der Unabhängigkeitserklärung der britischen Kolonien in Amerika – die Sklaverei erhalten blieb, gerade in den USA und in den französischen Kolonien. Es soll niemand erstaunen, dass die Sklaverei erst im 19. Jahrhundert abgeschafft wurde, als der fossile Brennstoff Kohle die Sklaven als Energiequelle der Wirtschaft ersetzten konnte. Später kamen Erdöl und Ergas dazu. Die Wohlstandsexplosion, die dann erfolgte, leitete eine neue Ära ein, die wir, dem Amerikanischen Autor Catton Jr. folgend, die "Age of Exuberance" (Zeitalter von Überschwang) nennen können. In dieser Ära begannen Ideale von Demokratie, Fortschritt, Menschenrechten, Freiheit, Emanzipation usw. zu blühen.
Diese Age of Exuberance begann in der Dritten Welt spät, in den 1960er Jahren. Es konnte sich aber nicht entfalten wie in Europa und Nordamerika. Die Ressourcen der Erde reichten nicht, alle Menschen der Welt mit Wohlstand zu beglücken. Viele Teile der Dritten Welt sind inzwischen in Bürgerkrieg, Gewalt, Chaos und Massenarmut versunken. Hunderttausende verlassen ihre Heimat in der Richtung der vermeintlichen Eldorados Europa und Nord Amerika, wo auch inzwischen als Folge der Wirtschaftskrise die Lage in jeder Hinsicht sehr schlecht geworden ist, wo der Sozialstaat abgebaut wird, wo Ausländerfeindlichkeit, Rassismus, Neofaschismus und Jugendgewalt zunehmen.
Schon 2006 wurde "Peak-oil" erreicht. Die ehemals reichen Ressourcenlager werden erschöpft. Die Weltbevölkerung aber steigt kontinuierlich. Die natürliche Umwelt ist stark degradiert. Prognose für die Wirtschaften: lange Stagnation, langfristig sogar Schrumpfung. Der Schwanengesang der heutigen Zivilisation ist schon angestimmt worden. Können wir angesichts dieser Lage noch hoffen, dass Gewalt in Zukunft weiterhin abnehmen wird?, dass die Welt immer friedlicher wird? Auch Opfer von struktureller Gewalt können zu den Waffen greifen. Sie tun es schon. Für Frieden brauchen wir eine andere Zivilisation.
* Steven Pinker: "Gewalt – Eine neue Geschichte der Menschheit", S.Fischer Verlag, Frankfurt a. M. 2011, 1210 Seiten, 26 Euro.