Freitag, 18. Oktober 2013

Lampedusa Weiterdenken


Was am 3.Oktober 2013 vor der Küste von Lampedusa geschehen ist, hat das Mitgefühlsvermögen und Gewissen der Europäer aufgerüttelt. Sie stehen zwar in puncto Handeln völlig ratlos da. Aber Mitgefühl ist auf jeden Fall gut.

    Was sollen die Europäer tun, um Wiederholungen von Tragödien dieser Art vor ihrer Haustür zu verhindern? Kann da überhaupt etwas getan werden? Mit dem, was ich zu dieser Frage in den Medien und Freundeskreisen bisher gelesen, gesehen und gehört habe, bin ich sehr unzufrieden. Mitleid und Rettungsaktionen bezeugen, dass wir noch nicht ganz kaltherzig geworden sind. Aber Problemlösung ist eine ganz andere Sache. Dazu gehört als erster Schritt eine tiefschürfende Ursachenanalyse, und als zweiter Schritt der Wille, das Problem zu lösen.

     Zur Ursachenanalyse gehört die Erkenntnis, dass es sich hier um ein globales Problem handelt. In Zusammenhang mit den letzten paar Bootsunglücken im Mittelmeer hörte man von Flüchtlingen aus Somalia, Eritrea, Syrien und, im allgemeinen, von Nordafrika. Aber Flüchtlinge kommen aus allen Herren Ländern, sogar aus den aufstrebenden Schwellenländern China und Indien. Und ihr Ziel ist nicht nur Europa, sondern auch die USA und Australien. Im Falle von Flüchtlingen aus Syrien und Somalia, teilweise auch denen aus dem Irak, ist die Ursache ganz klar die dortigen Bürgerkriege. Aber global gesehen, sind die meisten von ihnen nicht Kriegsflüchtlinge. Sie sind auch keine Armutsflüchtlinge, die an Hunger leiden. Die wirklich Armen und ihre Familien haben kein Geld, den Preis zu bezahlen, die die Schlepper fordern. Es sind eigentlich Wirtschaftsflüchtlinge, junge Leute, die in den hoch entwickelten reichen Ländern ihr Glück probieren wollen. Sie gehen dabei hohe Risiken ein, sie können bei dem Versuch sterben. Aber so ist halt die Jugend. Ihr trostloses Leben in der Heimat können sie nicht ertragen.

    Um dieses globale Problem zu verstehen, müssen wir die ganze heutige Weltlage etwas gründlicher verstehen. Selbst im scheinbar eindeutigen Falle der syrischen Flüchtlinge, genügt die unmittelbare Ursache, nämlich Bürgerkrieg, nicht. Wir müssen auch die Ursache des Bürgerkriegs verstehen. Er wurde durch eine Mischung von zunehmender Bevölkerungszahl, sich verschlechternder Lage der Umwelt und einer schlechten Wirtschaftspolitik verursacht. Syriens Bevölkerung wuchs von 8,7 Millionen im Jahre 1980 auf heute knapp 23 Millionen. Der Missmut der Bevölkerung begann mit einer Dürre, die bald zur Haupttriebkraft des Aufstands gegen das Regime wurde. Der US-amerikanische Journalist Thomas Friedman paraphrasierte neulich in The New York Times (18.05.2013) die Aussagen des syrischen Ökonomen Samir Aita mit den folgenden Worten: „Die Dürre verursachte den … Bürgerkrieg nicht, … aber das Scheitern der Regierung bei der Suche nach einer Antwort auf die Herausforderung spielte eine enorm große Rolle dabei, den Aufstand anzuheizen. Was geschah, war, dass Assad nach seiner Machtübernahme im Jahre 2000 den großen Farmern den bis dahin regulierten Landwirtschaftssektor öffnete. Sie kauften viel Land auf und bohrten so viele Brunnen wie sie wollten – mit dem Ergebnis, dass der Grundwasserspiegel stark fiel. Das führte zur Vertreibung von Kleinbauern weg von ihrem Land in die Städte, wo sie nach Arbeit herumsuchen mussten.“ Friedman kommentierte: „Im Zeitalter des Klimawandels werden wir wohl noch mehr solche Konflikte erleben.“

    Die Wurzeln vieler solcher Aufruhre der Gegenwart liegen bei diesen zwei miteinander verflochtenen Problemen. Je mehr die Bevölkerung wächst, desto mehr degradiert sie die Umwelt. Und je mehr die Umwelt degradiert wird, desto weniger kann sie der Bevölkerung bei der Erwirtschaftung ihres Lebensunterhalts helfen. Nehmen wir noch zwei Beispiele:

    1979 lebten in Ägypten 40 Millionen Menschen, 2011 – das Jahr, in dem die Revolte gegen Mubarak stattfand – lebten dort 85 Millionen. Über die Lage der Umwelt lesen wir: „Bodenkompaktheit und steigender Meeresspiegel haben schon dazu geführt, dass Salzwasser ins Nildelta eingedrungen ist. Überfischung und Überentwicklung bedrohen das Ökosystem des Roten Meeres. Und unregulierte und unnachhaltige Landwirtschaftspraktiken in den ärmeren Gegenden plus extremere Temperaturen tragen zur Bodenerosion und Wüstenbildung bei. Die Weltbank schätzt, dass Umweltdegradation Ägypten jährlich 5 Prozent des Bruttoinlandprodukts kostet“ (Artikel von Friedman in NYT, 21.09.2013.)  

    Nehmen wir als Beispiel auch den Iran, wo 2009 die Jugend der Mittelschicht gegen das Regime revoltierte. 1979 betrug die Bevölkerung des Landes 37 Millionen. Zurzeit leben da 75 Millionen Menschen. Was aber für die Zukunft des Landes noch gefährlicher ist, ist die Verschlechterung der Lage der Umwelt. Irans ehemaliger Landwirtschaftsminister, Issa Kalantari, sagte neulich: „Das Hauptproblem, das uns bedroht, das gefährlicher ist als Israel, Amerika oder politische Kämpfe, ist die Frage des Lebens im Iran. … Das Problem ist, dass die iranische Hochebene unbewohnbar wird. … Die Grundwassermenge hat abgenommen, und eine negative Wasserbilanz ist weitverbreitet. … Ich mache mir große Sorgen um die künftigen Generationen. … Wenn diese schlechte Situation nicht behoben wird, wird der Iran in 30 Jahren zu einer Geisterstadt. … Alle natürlichen Wasservorräte im Iran trocknen aus, … Wüsten breiten sich aus. … Die Menschen müssen auswandern. Aber wohin? Ich kann leicht sagen, dass von den 75 Millionen Menschen im Iran 45 Millionen in ungewissen Zuständen leben müssen“ (zitiert nach Friedman in NYT, 21.09.2013)

    Kalantari stellte die rhetorische Frage, wohin die iranischen Umweltflüchtlinge in Zukunft auswandern könnten. Die Wirtschaftsflüchtlinge von heute wissen es schon: nach Europa, Amerika und Australien. Ihre Versuche scheitern zumeist, sie enden oft tragisch, wie neulich vor Lampedusa. Eine andere Folge dieser Versuche ist der Aufstieg von rassistischen, rechtsradikalen und fremdenfeindlichen politischen Kräften in den reichen Ländern, wo schwarze, braune und gelbe Flüchtlinge total unwillkommen sind, wo sie regelmäßig Opfer von faschistischen Pogromen werden.

    Kann denn überhaupt etwas getan werden, um das Problem zu lösen? Was es ganz sicher nicht lösen würde, ist die Öffnung aller Ländergrenzen, die einige Gutmenschen, darunter viele Radikallinke, seit etlichen Jahren fordern. Anders als in den 1950er und 1960er Jahren, wenn die westeuropäischen und nordamerikanischen Wirtschaften boomten, gibt es heute keinen Job für die hunderttausende ungelernte Wirtschaftsflüchtlinge, die bei totaler Grenzöffnung in diese Länder strömen würden. Die Wirtschaften der reichen Länder stagnieren seit langem, und sie werden auch in Zukunft weiter stagnieren, wenn nicht gar schrumpfen. Zudem sind die meisten arbeitsintensiven Industriebranchen der Vergangenheit entweder radikal nach Billiglohnländern ausgelagert oder radikal automatisiert worden, was auch hohe Arbeitslosigkeit in den reichen Ländern zur Folge hat. Niemand wird von einer solchen Politik profitieren als die rassistischen und rechtsradikalen politischen Kräften. Und ganz sicher wird keine Regierung der reichen Länder so eine Flüchtlingspolitik verfolgen, nicht zuletzt aus Angst vor rechtsradikalen und ausländerfeindlichen Mobs.

    Die Länder, von denen die Wirtschaftsflüchtlinge kommen, werden also ihr Überbevölkerungsproblem nicht durch die Förderung von Emigration der überschüssigen arbeitslosen Menschen lösen können. Sie müssen ihre Probleme selbst und zu Hause lösen. An guten Ideen dazu mangelt es nicht. Die wichtigste davon ist die schnelle Senkung der Geburtenrate. Die medizintechnischen Möglichkeiten sind ja schon da. Die reichen Länder können ihnen dabei etwas helfen. Mehr aber nicht.