Dienstag, 25. August 2015

Zur Bedeutung und Brauchbarkeit des Begriffs "Entwicklung" in der Nachhaltigkeits Diskussion -- einige Terminologische Klärungen


 Vor einiger Zeit (21 May 2015) veröffentlichte ich in meiner englischsprachigen Blogseite (www.eco-socialist.blogspot.de) den Aufsatz Victorious in War But Defeated in Peace – How Development-Socialism Ended in Capitalism. Daraufhin bekam ich, was ich sehr selten erfahre, ein paar Zuschriften. Das zeigte, dass der Inhalt des Aufsatzes ein bisschen Interesse erweckt hatte. Eine dieser Zuschriften kam von meinem Freund und Sympathisanten Herrn Raul Claro, ein Chilene, der seit etwa fünf Jahrzehnten in München lebt und politisch aktiv ist. In seinem Schreiben äußerte Herr Claro einige Bedenken über und etwas (konstruktive) Kritik an die/der negative(n) Haltung der radikalen Ökologen gegenüber der Idee und dem Begriff der Entwicklung. Ich musste darauf sowieso antworten. Ich benutzte aber diese angenehme Pflicht, in einem längeren Schreiben (in zwei Teilen) einige Unklarheiten bei diesem Begriff und einigen damit assoziierten Sachen zu beseitigen. Dessen Ergebnis (samt Herrn Claros Zuschrift) macht den hier veröffentlichten Blog aus.

24.05.2015

Lieber Herr Sarkar,

vielen Dank für diesen sehr interessanten Artikel, den ich auch als für mich herausfordernd empfinde – bei aller Zustimmung in der Richtung. Ich schicke ihn auch an andere. Wird er auch auf Deutsch in Ihrem Portal erscheinen? Manche lesen nicht, oder nur ungern English.
    Wenn ich aus meinen Interessen, Überzeugungen und Ansichten heraus auf Ihre Artikel (und auch auf die von anderen Autoren) reagiere und in mir Widerspruch sehe, frage ich mich, natürlich, woher dieser stammt. Und ich sehe oft die Quelle des Meinungsunterschieds in den unterschiedlichen Ebenen, auf denen man sich bewegt.
    Jeder kritische Autor scheint irgendwie eine Entscheidung getroffen zu haben, welche genau dosierte Mischung von Realitäts- und Idealitätssinn er für sein Denken und Urteilen anwenden wird. Ich glaube, man geht dabei nicht besonders explizit und bewusst vor, sondern es sind bestimmte schwer zu definierende Faktoren, die ihm die Wahl selbstverständlich machen - und so ist diese Wahl sehr speziell und daher verschieden von der anderer Autoren. Vielleicht ist die Kommunikation und Auseinandersetzung leichter, wenn diese Ebenen-Wahl explizit gemacht und mit in die Diskussion einbezogen wird.
    So geschieht es mir in letzter Zeit oft mit dem Begriff "Entwicklung". Es ist ein wichtiges Thema für mich seit über 40 Jahren, als ich mich als Chilene in München Ende der 60er Jahre für Politik und die Lage unterentwickelter Länder interessiert habe. In letzter Zeit habe ich auch ein Buch dazu veröffentlicht (auf Spanisch).
    Heute finde ich, dass in den reichen Ländern diese Frage weitgehend aus der Diskussion verschwunden ist, oder wenn sie auftaucht, jedenfalls in fortschrittlichen Kreisen, eher negativ, eher als Irrweg und abzulehnende Zielsetzung beurteilt wird. Verschwunden ist sie, weil die Globalisierung davon gar nichts wissen will, da Entwicklung primär als Sache eines Nationalstaates (zu recht) verstanden wird, und insofern wären die nationalen Entwicklungsbestrebungen ein "Handelshemmnis" für Globalisierungsbegeisterte, eine Verzerrung der Märkte. Für Linke, vor allem Degrowth-Aktivisten, wiederum ist Entwicklung der gerade Weg in die gesellschafts- und naturzerstörende kapitalistisch-industrielle Wirtschaft, die wir bei den OECD-Ländern vorfinden und bekämpfen.
    Ich verstehe aber unter Entwicklung (in Anlehnung an Dieter Senghaas u. a.) das, was in der heutigen Welt notwendig ist, wenn eine Nation einen annehmbaren Grad an Unabhängigkeit, Selbstbestimmung, eigener Kompetenz haben will. In diesem Sinne ist Entwicklung (Sie zitieren Otto Ulrich) mit ganz anderen technischen Möglichkeiten und Niveaus kompatibel als wir sie heute in der OECD kennen. Der Begriff sollte nicht mit der heutigen industriellen Verfassung der Wirtschaft identifiziert werden. Er sollte aber auch nicht aufgegeben werden, (man kann ein anderes Wort dafür finden, vielleicht), wie es heute geschieht, in unbewusster Befolgung des Globalisierungsimperativs.
    Der Begriff, unter welcher Bezeichnung auch immer, steht für eine Gemeinschaft, die – groß oder klein – sich als demokratische   Einheit sieht neben anderen, von denen sie sich unterscheidet und mit denen sie sich austauscht. Wie halt Deutschland, Chile, Indien, China, Vietnam, Kenia sich aufgrund einer hohen Pflege von Wissenschaft (hoffentlich einer anders gewichteten) und Technik (hoffentlich einer nicht zerstörerischen) in der Lage ist, ihre gesellschaftlichen Fragen möglichst frei und angemessen zu lösen; dabei möglichst auf die eigenen Ressourcen, Kreativität, selbstbestimmte demokratische Entscheidungen zurückgreift, ohne Isolierung oder illusorische Autarkie-Vorstellungen;
    -  daher auch eine Betonung der Binnenwirtschaft und des Binnenmarktes gegenüber dem Außenhandel und den Fremdinvestitionen pflegt;
    - daher auch eine gut vernetzte Binnen-Wirtschaft organisiert, wo die Produktionseinheiten eher sich untereinander vernetzen als mit entfernten fremden: Es wird für die eigene innere Wirtschaft und Bevölkerung produziert, nicht in erster Linie für den Export.
    In zwei Worten also:  Entwicklung soll für eine Weltwirtschaftsverfassung stehen, in der es relativ souveräne Einheiten gibt, die vollkompetent sind und sich nicht gefallen lassen müssen, reine Glieder der globalen Wirtschaftsproduktions- und -konsumketten der großen Unternehmer der OECD-Länder zu sein.
    Er ist ein Kampfbegriff gegen die neoliberale Globalisierung. Der Begriff hat keine Rolle gespielt in dem Aufbau vom europäischen Binnenmarkt - und jetzt sehen wir die Folgen in den südeuropäischen Ländern: verarmt, abhängig, gezwungen, ihre Ressourcen, Reichtümer und Errungenschaften an die eh Viel-zu-Reichen abzugeben, um Schulden zu bezahlen. Ihre eigenständige Entwicklung stand (und steht) nicht zur Diskussion.
    Daher halte ich das Vergessen des Begriffs der Entwicklung für einen der großen Triumphen der Globalisierungsbefürworter. Dadurch konnten sie den Freihandel und die Auslandsinvestition zu Ikonen der modernen Welt machen und sich damit die Fortsetzung der kolonialen Strukturen (mit anderen Mitteln) sichern. Ich sehe auch in den Flüchtlingsströmen genau die Folge von der ausgebliebenen Entwicklung, die nach dem Krieg den (z. B. afrikanischen) neuen Nationen versprochen wurde.
    Diese Ausführungen zeigen was ich mit den anfangs genannten verschiedenen Ebenen meine. Ich denke, unsere Hauptaussagen und Meinungen sind durchaus kompatibel, die stoßen nicht gegeneinander, weil die Ebenen je andere sind.
     Ich wäre voll Ihrer Meinung, wenn die Ablehnung des Industrialismus dazu führt, dass wir eine andere Entwicklung, andere Wissenschaft (????) und Technik anstreben. Ja, unbedingt anderes da. Aber ich kann nicht mitziehen, wenn sie bedeuten würde, dass wir, gleich den Globalisierungsbefürwortern, keinen Wert darin sehen, dass sich die Länder Afrikas, Lateinamerikas... selber wissenschaftlich-technisch kompetent machen und dadurch verhindern, dass sich ihre abhängige Rolle als Rohstofflieferanten für die OECD verfestigt.
     Man müsste vermutlich viel diskutieren ... . Nun ja, ich denke, was ich meine, ist irgendwie klar

 Herzliche Grüße und nochmal Dank für Ihren Beitrag.

Raul Claro


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24.05.2015

Lieber Herr Claro,

vielen Dank für Ihre obige Mail. Ich habe mich sehr darüber gefreut. Was Sie da geschrieben haben, ist sehr viel Diskussionsstoff. Das kann man nicht in ein paar Sätzen erledigen. Darauf werde ich mich einlassen, wenn ich etwas Ruhe habe. … . Ein mögliches Missverständnis Ihrerseits will ich aber gleich beseitigen. Ich bin kein Befürworter der Globalisierung. Wenn ich den Begriff "globales Project" benutze, bedeutet das weltweit, in vielen Ländern.  Ich habe in meiner deutschen Blogseite (
www.ak-oekopolitik.blogspot.de) auch einen Artikel über Bhutan (http://ak-oekopolitik.blogspot.de/2014/01/bhutan-ist-keine-insel-die-zukunft-des.html). Da sehen Sie, wie ein schönes, viel versprechendes Projekt scheiterte, weil kein anderes Land das gleiche versuchte.

Mit herzlichenGrüßen

Saral Sarkar


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13.06.2015 bis 21.06.2018

Lieber Herr Claro,

Ich habe Ihnen kurz auf Ihr Schreiben vom 24.05. geantwortet. …. Jetzt komme ich zu den substanziellen Punkten Ihres Schreibens, auch diesmal nur kurz. Dies ist eine vorläufige Antwort, nicht gründlich überlegt. …. .
    Ich möchte Ihnen im Voraus sagen, dass ich Ihnen in manchen Punkten widersprechen muss. Ihre Logik kann ich nicht immer nachvollziehen. Ich verstehe nicht, warum Sie auf Weiterbenutzung des Begriffs "Entwicklung" beharren, obwohl Sie mit meiner ökologischen Begründung des Sozialismus einverstanden sind (ich dachte so.). In diesem Schreiben kann ich nur auf einige der vielen Punkte eingehen, die Sie angeschnitten haben.

Zur Ebenen-Wahl

Sie haben recht. Ich habe meine Ebenen-Wahl (wie Sie es ausdrücken) schon explizit gemacht – schon 1994, als ich anfing, mein Buch Eco-Sozialism or Eco-Capitalism? (auf Deutsh Die nachhaltige Gesellschaft) zu schreiben. Wenn Sie die Einleitung noch einmal anschauen, dann merken Sie wohl, dass ich mich nicht primär als Inder verstand, sondern als Mensch. Meine Sorge und mein Interesse galten schon damals nicht meiner Heimat Indien, nicht der Dritten Welt, nicht der Entwicklung, sondern der Erde, der Welt und der Menschheit. Ich dachte damals, dass weder Indien noch der Dritten Welt wirklich geholfen werden kann, wenn wir nicht an der Rettung des Planeten und der Menschheit arbeiten. Wenn wir über Indien (oder die Dritte Welt) diskutieren müssen, müssen wir das vor dem Hintergrund der Lage der Erde, der Welt und der Menschheit  tun.
    Ich habe auch explizit gemacht, welche Mischung von Realitäts- und Idealitätssinn ich anwende. In der Einleitung des genannten Buches steht ein Abschnitt mit dem Titel "einige grundsätzliche Standpunkte"; das ist der Ausdruck meines Idealitätssinn. Im Kapitel 6 steht ein Abschnitt mit dem Titel "Öko-sozialistische Politik für heute und morgen". Das ist der Ausdruck meines Realitätssinn. Ich habe immer gemeint, man kann keine sinnvolle Politik machen, wenn nicht zuerst die grundsätzlichen Fragen geklärt sind.

Zum Begriff "Entwicklung"

(1) Ich finde es gut, dass der Begriff "Entwicklung" aus der Diskussion gezogen worden ist. Wenn das noch nicht geschehen ist, sollte das spätestens jetzt geschehen – und zwar aus den Gründen, die die De-Growth-Aktivisten anführen. Ein Kampfbegriff gegen neoliberale Globalisierung ist Entwicklung längst nicht mehr. Die zwei sind sehr gut kompatibel, zumindest auf der Ebene der Hoffnung. Das habe ich in meinem oben genannten Artikel begründet (
http://www.eco-socialist.blogspot.de/2015/05/victorious-in-war-but-defeated-in-peace.html).
    Seien Sie also vorsichtig mit dem Begriff "Entwicklung". Sie können nicht plötzlich eine rein private/willkürliche Definition in die öffentliche Diskussion einführen – eine, die Ihrer Meinung nach die richtige sein sollte. Wegen der Ökologie- und Ressourcenproblematik haben viele Opportunisten daraus "nachhaltige Entwicklung" und "nachhaltiges Wachstum" gemacht. Das waren sowohl Businessleute als auch Grüne Parteien und Umweltschutz- verbände. Auch der Brundtland-Bericht (1987) – eine UNO-Sache – hat diesen Missbrauch des Begriffs "nachhaltig" betrieben, um das Entwicklungsstreben zu verteidigen, es den ökologisch bewussten Menschen schmackhaft zu machen. Alle ehrlichen Ökologen haben allerdings so was als ein Oxymoron entlarvt. Auf Deutsch habe ich den Begriff "ein schwarzer Schimmel" benutzt. Nichtsdestotrotz geht der Missbrauch weiter. Erst seit kurzem werden solche Begriffe infrage gestellt. Inzwischen gibt es "De-Growth", "Postwachstumsgesellschaft" etc.
    Von der UNO-Seite kam auch "human development". Aber das war eine andere Kritik der traditionellen Entwicklungsidee, keine ökologische und ressourcenbezogene.
    Wenn man Entwicklung – sowohl die Sache als auch den Begriff – aus den genannten Gründen ablehnen muss, bleibt noch die Frage "Was ist mit dem Fortschritt?". Ich denke, man kann schon von Fortschritt reden, ohne dabei Wirtschaftsentwicklung zu meinen. Den Begriff "Fortschritt" kann man problemlos neu definieren, da er nicht so festgeklopft ist wie "Entwicklung". Ich habe das im Kapitel 7 meines Buches Die nachhaltige Gesellschaft.getan. Ich wäre glücklich gewesen, wenn die UNO von human progress (oder societal/social progress) gesprochen hätte.
    Ihre Definition von Entwicklung – "Ich verstehe aber unter Entwicklung (in Anlehnung an Dieter Senghaas u. a.) das, was in der heutigen Welt notwendig ist, wenn eine Nation einen annehmbaren Grad an Unabhängigkeit, Selbstbestimmung, eigener Kompetenz haben will." – kann selbst einer einzelnen Nation nicht helfen, geschweige denn der Welt, weil (a) das zu vage ist. Was und wie viel ist annehmbar/notwendig? ; (b) weil hier auf einer anderen Ebene argumentiert wird. Sie schreiben "in der heutigen Welt", während wir schon heute um die zukünftigen ökologischen und ökonomischen Auswirkungen unseres heutigen Handelns besorgt sein müssen (sonst …..); (c) weil hier so getan wird, als wäre die Situation so geblieben ist wie in den 70er Jahren (als Senghaas wohl seine Texte schrieb).
    In dem Zitat redet Otto Ullrich vom Sozialismus, nicht von Entwicklung. Das sind zwei verschiedene Sachen. Wenn man den Begriff "Entwicklung" überhaupt noch benutzen wollte, dann sollte man das nur im Sinne der Differenzierung tun, die Herman Daly, wohl auch in den 70er Jahren, zwischen Entwicklung und Wirtschaftswachstum gemacht hatte:

"Wachstum bedeutet eine quantitative Zunahme des Ausmaßes der materiellen Dimensionen der Wirtshaft. ›Entwicklung‹ bedeutet die qualitative Verbesserung der Struktur, des Designs und der Zusammensetzung des Bestands an materiellen Reichtümern – eine Verbesserung, die aus größerem Wissen sowohl über Technik als auch vom Zweck [des Wirtschaftens] resultiert. Eine wachsende Wirtschaft wird größer, eine sich entwickelnde Wirtschaft wird besser. Eine Wirtschaft kann sich also entwickeln, ohne zu wachsen, oder wachsen, ohne sich zu entwickeln. " (Daly, zit. n. Sivaraksa 1996: 70)

Aber Dalys Definition konnte sich nicht durchsetzen.

(2) Ich erinnere mich an zwei Aufsätze, die wohl in den Siebzigerjahren erschienen waren. Da hatten Dieter Senghaas, Samir Amin etc. den Begriff "autozentrierte Entwicklung" (Sie sagen "eigenständige Entwicklung"), wohl im Gegensatz zu weltmarktzentrierte Entwicklung, eingeführt und allen unterentwickelten Ländern eine diesbezügliche Politik empfohlen ( Bitte korrigieren Sie mich, wenn das nicht stimmt!). Wenn ich mich richtig erinnere, hatten Senghaas et al. dabei China und Nordkorea als Beispiele erwähnt (Gegenbeispiele waren die sog. Asiatischen Tiger). Sie wissen doch, wo diese zwei Länder heute stehen. Aber auch diese Kritik von Senghaas et al war keine ökologische und ressourcenbezogene Kritik von Entwicklung, sondern eine Kritik der weltmarktorientierten Entwicklung.
    Auch Indien versuchte unter der Führung von Nehru eine ähnliche Politik: Das Ziel war "a socialistic pattern of society". Da war damals die Rede von "import-substituting" development. Kein Anschluss an den freien Weltmarkt. Der Staat plante und regulierte damals Investitionen. Ausländisches Kapital kam ins Land in der Form von Darlehen (von reichen Staaten: USA bis UdSSR) und private Kapitalinvestitionen in Form von "joint ventures". Aber auch diese Politik scheiterte. 1991 gab Indien diesen Weg auf.
    Wenn also (a) autozentrierte (eigenständige) Entwicklung versucht wurde, aber scheiterte, (b) wenn Entwicklung nur auf dem Weg der Integration in den freien globalisierten kapitalistischen Weltmarkt möglich war (warum das so sein musste, habe ich in meinem oben genannten Artikel über das Scheitern des "development socialism" gezeigt), und (c) wenn Herman Dalys Definition des Begriffs "Entwicklung" nirgendwo akzeptiert worden (geläufig geworden) ist, dann ist es überaus sinnvoll, dass unsereins diesen Begriff ganz fallen lassen und für unsere Ideen einen anderen benutzen. Ich benutze meist den Begriff "nachhaltiges Wirtschaften" oder, noch breiter gemeint, "nachhaltige Gesellschaft" (so der Titel meines Hauptwerks in deutscher Übersetzung) statt "nachhaltige Entwicklung". Ein Aufsatz von mir trägt den Titel "Nachhaltige Entwicklung – vergeblicher Rettungsversuch für eine sterbende Illusion". Der Vorzug dieser von mir benutzten Begriffe ist, dass sie auch die Notwendigkeit des Stoppens des Bevölkerungswachstums beinhalten, während "Entwicklung" das nicht tun kann und nie getan hat. Das ist verständlich. Wenn Wirtschaftsentwicklung wünschenswert und möglich ist, dann ist doch Bevölkerungswachstum kein Problem!
    Ich teile Ihre Kritik an der neoliberalen globalisierten Wirtschaftsordnung hundertprozentig. Aber daraus folgt nicht dass "Entwicklung" "ein Kampfbegriff
gegen die neoliberale Globalisierung war oder sein kann. Warum soll man überhaupt gegen die neoliberale Globalisierung sein? Die Geschichte der letzten Jahrzehnte zeigt doch, dass gerade die neoliberale, globalisierte und kapitalistische Weltwirtschaftsordnung es möglich gemacht hat, dass ehemalige bitterarme Völker wie die Inder, Bangladeschis, Kambodschaner usw. heute einen gewissen Grad an Wohlstand genießen (auch die ehemals Bitterarmen genießen heute Fernsehen und Telekommunikation). Sie sind zwar in diesem Prozess abhängig geworden, aber was wollten diese Völker in den 1990er Jahren mehr? Etwas Wohlstand oder Unabhängigkeit? Wie Nordkorea bleiben oder wie Vietnam sein? Wir brauchen die Tatsachen nicht zu leugnen, um für unsere Ideale zu kämpfen.
    Wenn Sie einen Kampfbegriff brauchen, dann benutzen Sie doch "nachhaltiges Wirtschaften", "Steady-State-Ökonomie auf niedrigem Niveau", "Wirtschaftsschrumpfung" aus ökologischen Gründen, "De-Growth" usw., oder halt "Ökosozialismus"! Der letzte drückt auch den Kampf gegen den Kapitalismus aus. In meinem Buch Die nachhaltige Gesellschaft habe ich aus einem Spiegel-Bericht Folgendes über hochrangige Beamten der Administration des Präsidenten Bush Senior zitiert:

"Die Bush-Gehilfen argwöhnen, die weltweit geschlagenen Verfechter der Planwirtschaft strebten nun über den Umweltschutz an, was ihnen im kalten Krieg versagt blieb: den Sieg über den Kapitalismus. So hatte Darman [ein Mitarbeiter von Bush] … Angst vor ›radikalen Grünen‹ geschürt, die ein ›globales Management‹ der Ressourcen erzwingen wollten."  (Der Spiegel, 21.05.1990: 163)

Zum Nationalstaat

(3) In Ihrer oben zitierten Definition von Entwicklung benutzen Sie das Wort "Nation". Dann aber schreiben Sie: "Der Begriff, unter welcher Bezeichnung auch immer, steht für eine Gemeinschaft … ." Das sind aber zwei verschiedene Sachen. Eine Gemeinschaft kann sich auch zu einer Nation formieren mit Staat usw., oder sich so nennen (z.B. die amerikanischen Indianergemeinschaften nennen sich jeweils eine Nation). Aber eine Nation ist nicht unbedingt eine Gemeinschaft. Meist bestehen Nationen (d.h. Nationalstaaten) aus mehreren Gemeinschaften (Ethnien, Sprach-, Religions- oder einfach Regionalgemeinschaften). Eine Nation ist dann de facto eine Föderation oder Union von mehreren Gemeinschaften. Auch die kleine Schweiz ist ein solcher Nationalstaat. Da kann man eher die Kantonen Gemeinschaften nennen. Nationen sind meist erfundene Gemeinschaften (imagined communities). (Diese Sachen muss ich noch studieren. Darum will ich hier meine Gedanken darüber nicht weiter ausführen und noch nichts Abschließendes sagen).
    Was das Wirtschaften betrifft, bin ich ganz für "Eigenständigkeit" (Selbständigkeit) als Ziel, sofern mit "Wirtschaften" nicht auch Entwicklung impliziert wird. Aber ich bin dafür hauptsächlich aus praktisch-politischen Gründen. Wie die Welt bis jetzt ist, kann man den anderen Völkern/Nationen als Versorgungsquellen (Importe) nicht ganz trauen (denken Sie an Sanktionen, Embargos, geopolitische Interessen etc.), oder sie können aus verschiedenen Gründen unzuverlässig werden. Aber auch in der zukünftigen idealen, solidarischen und friedlichen Welt der ökologischen Ökonomien wäre eigenständiges Wirtschaften die bessere Wirtschaftspolitik sein – aus ökologischen und ressourcenbezogenen Gründen (die langen Transportwege sind ja unökologisch und ressourcenintensiv).
    Allerdings soll man immer bedenken, dass der Mensch nicht mehr wie ein Jäger-Sammler der Altsteinzeit leben kann. (Robinson Crusoe hatte seine Kleider und ein paar andere Sachen aus dem havarierten Schiff geholt). Etwas Tauschhandel hat es immer gegeben. Darum ist "weitestgehende Eigenständigkeit" der richtige Begriff.
    Aber die Nation (der Nationalstaat)? Das ist keine gute Sache, selbst wenn Nationen keine imperialistischen sind. Sie sind alle künstliche Gebilde, meist durch Zufälle und Kriege entstanden, ohne eine logische oder rationale Grundlage. Sie zerbrechen deswegen auch leicht – durch Kriege oder Bürgerkriege (z.B. die Sowjetunion, Jugoslawien, die Tschechoslowakei, der Sudan und auch der Süd-Sudan). In Friedenszeiten konkurrieren die verschiedenen Gemeinschaften, aus denen eine Nation zusammengesetzt ist, um Ressourcen, Jobs, Macht usw. usf. (z.B. der Süd-Sudan, der Jemen). Eine Nation ist also eine erfundene Gemeinschaft mit einer meist prekären/unsicheren Identität.
     Einige Nationen sind zu groß, als dass man sich damit ganzen Herzens identifizieren könnte (z.B. China, Indien, Russland, die USA, Canada, Brasilien). Ein Tibeter denkt nicht, dass er Chinese ist, ein Naga nicht, dass er Inder ist, und ein Mapuche nicht, dass er Chilene ist. Die müssen wir zwar heute und in der Übergangsperiode aus praktischen Gründen als gegebene Sachen hinnehmen. Aber sie sind keine geeignete politisch-ökonomische Einheit für eigenständiges Wirtschaften. Der Handel zwischen Moskau und Wladiwostok ist zwar formal Binnenhandel, de facto aber Fernhandel. Sie sind auch nicht geeignet für eine friedliche ökosozialistische Weltföderation.

Mit herzlichen Grüßen

Saral Sarkar

PS. Die zwei obigen Zitate (von Daly und vom SpiegelArtikel) sind in meinem Buch Die nachhaltige Gesellschaft zu finden.

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